Azalea streifte durch das lichte Gehölz hinter Waldbrück, auf der Suche nach Kräutern. Vor dem großen Sommer­feldzug musste sie ihre Vorräte auffüllen. Ihre magischen Heiltränke und Schutzzauber würden wieder in Massen gebraucht werden, wenn es erneut gegen die Verdorbenen in die Schlacht ging. Die schmalen Wildwechsel, auf denen sie die reichste Auswahl fand, kannte sie gut.

Sie beugte sich gerade über einen Strauch Melisse am Wegesrand, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. In der Erwartung vielleicht einen Hasen oder gar ein Reh über den Weg hüpfen zu sehen, blickte sie auf – und erstarrte.

Wenige Meter vor ihr trat ein Ork aus dem Unterholz.

Sie hatte noch nicht viele seiner Art gesehen, aber ihre furcht­einflößende Erscheinung war kaum zu verwechseln: breitschultrig, groß, muskelbepackt und mit so dunkelgrüner Haut, dass sie dort wo die Schatten von Blättern darüber tanzten, fast schwarz wirkte. Das lange, schwarze und zu dicken Strängen verfilzte Haar war an den Seiten kahlgeschoren und auf dem Kopf streng nach hinten gebunden. Er war zweifelsohne einer aus ihrer Kriegerkaste, zu­mindest, wenn sie sich richtig an das erinnerte, was sich Menschen über das Volk erzählten. Azalea hatte sich nicht wirklich mit Orks beschäftigt. Es hatten sich auch bisher nie welche nach Waldbrück verirrt.

Im Gegensatz zu den wenigen, die sie auf dem letzten Feldzug aus der Ferne gesehen hatte, trug dieser nur eine leichte Lederrüstung und einen Bogen mit eingelegtem Pfeil, den er auf den Boden gerichtet hielt. Bei einem Menschen hätte Azalea wahrscheinlich auf diese Waffe geachtet, die normalerweise das Gefährlichste an einem Gegner war. Nun aber blieben ihre Augen an seinem Gesicht hängen. Wie bei allen Orks wirkte es wutverzerrt, mit tiefen Falten zwischen den dunklen Augenbrauen und um die Mundwinkel. Seine Nase war flach, die Nüstern steil und schmal. Aus dem breiten Mund ragten Hauer, die nicht ganz so übertrieben aussahen, wie sie auf den Bild­chen gezeichnet waren, die in den Tavernen herumgereicht wurden. Aber das ließ sie kaum weniger bedrohlich wirken. Doch bei all seiner imposanten, hässlichen Erscheinung, waren es seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit am meisten bannten. Tief in den Höhlen liegend leuchteten sie in einem schmutzigen Gold und schienen sie aufmerksam zu fokussieren.

Azaleas Herz begann zu rasen, genau wie ihre Gedanken. Was hatte sie über Orks gelernt?

Nicht viel.

Wahrscheinlich würde er sie fressen.

Mit dem Bogen sah er ohnehin schon so aus, als sei er auf der Jagd. Wenn sie sich recht erinnerte, sollte man sie weder bedrohen noch ängstlich wirken. Tatsächlich fühlte sie sich gerade zu überrascht, um Angst zu empfinden. Stattdessen hatte sie automatisch angefangen die Situation und ihre Möglichkeiten abzuwägen. Das war etwas, dass sie auf den letzten Feldzügen gelernt hatte. Aber würde ihr das jetzt helfen? Wie auch immer, sie hatte sich geschworen nicht mehr feige oder schwach zu sein, seit sie den ersten Fuß auf den Kontinent gesetzte hatte.

In der Hoffnung, dass ihre Stimme nicht versagte, versuchte sie es also mit einem vielleicht etwas zu lauten »Hallo!«

Hallo? Mordruk war irritiert. So hatte ihn wohl noch kein Mensch begrüßt. Aber das war nicht das einzige, was ihn irritierte. Da stand eine Menschenfrau mutterseelenallein mitten im Wald, ohne Waffen. Sie trug nur ein einfaches Kleid, ihren Beutel und ein kleines Messer, mit dem sie gerade ein paar Stängel Grünzeug abgeschnitten hatte. Ihr feuerrotes Haar hatte sie nur locker ge­flochten und einige Blumen hineingesteckt. Für einen Menschen war sie vielleicht nicht besonders zierlich, aber sie reichte ihm höchstens bis zur Schulter und wie eine Kriegerin war sie nicht gebaut, eher wie eine junge Zuchtmutter: mit nicht zu üppigen aber dennoch vollen Kurven. Und weit und breit niemand der auf sie achtgab! Diese Menschen …

»Hallo«, erwiderte er ihren Gruß. »Habt Ihr Euch verlaufen?«

Seine Stimme war tief und rau aber nicht unfreundlich. »Nein, ich sammle Kräuter. Habt Ihr Euch verlaufen?«

Mordruk schnaubte. Der Ork, der sich in einem so lichten Wäld­chen verlaufen konnte, musste erst noch geboren werden. »Nein, ich bin auf der Jagd.«

Höfliches Geplänkel war nicht ganz, was Azalea erwartet hatte. Wobei sie nicht genau sagen konnte, was sie erwartet hatte, außer eben vielleicht, gefressen zu werden. »Das dachte ich mir schon«, erwiderte sie und nickte dabei zu seinem Bogen. So langsam war sie sich nicht mehr sicher, ob sie sich mehr fürchtete oder albern vorkam.

Die Frau tat doch wirklich, als wäre nichts, stellte Mordruk verdutzt fest. »Ihr solltet hier nicht so allein herumlaufen«, mahnte er sie.

War das jetzt die Einleitung dazu, dass sie selbst schuld war, wenn sie von ihm gefressen wurde? »Wieso? Die Siedlung ist doch kaum fünfzehn Augenblicke zu Fuß entfernt.« Sie fragte sich, ob sie ihm bis dorthin davonlaufen konnte. Aber selbst wenn der Anblick seiner muskulösen Beine diese Idee nicht sofort zunichte gemacht hätte, er hatte ja immer noch den Bogen.

»Trotzdem, hier könnten Wölfe oder Banditen lauern«, beharrte er.

Oder Orks, dachte sie. Aber sie kam nicht zum Antworten, bevor er weitersprach.

»Ich sollte Euch zur Siedlung zurückbegleiten.«

WAS??? Zu allem Überfluss wirkte dieser Ork vollkommen aufrichtig. Aber sein Volk galt als verschlagen. Vielleicht war das irgendein Trick oder so etwas, wie wenn eine Katze mit ihrer Beute spielte. Azalea entschloss sich mitzuspielen. »Das ist wirklich sehr freundlich, aber ich brauche noch ein paar Fichtenspitzen. Die gibt es nur um diese Jahreszeit. Ihr habt nicht zufällig welche gesehen?«

Langsam fand auch Mordruk die Situation absurd. Jede normale Menschenfrau wäre schon bei seinem Anblick entweder davongerannt oder in Ohnmacht gefallen. Aber diese hier zeigte keine Angst und sie roch auch nicht danach. Alles, was seine Nüstern erreichte, war der Geruch dieser Blumen, die sie in ihre Haare geflochten hatte und der Kräuter, die sie schon in ihrem Beutelchen trug. Vielleicht war sie eine Hexe. Er sollte vorsichtig sein. Wesen, die keine Angst hatten, hatten für gewöhnlich einen Grund dafür – oder sie waren einfach sehr dumm. »Hm, ich glaube dort kurz vor dem Fluss habe ich Fichten gesehen. Das liegt auch auf dem Weg zurück. Ich begleite Euch.« Selbst wenn sie dumm war, sie sah aus, als könne sie starke Töchter und Söhne gebären und so eine Frau sollte bewahrt werden.

Azalea überlegte, ob es besser wäre zu versuchen, ihn loszuwerden oder ihm in Richtung Siedlung zu folgen. Immerhin hatte er be­züglich des Weges nicht gelogen. Es war sogar die kürzeste Strecke. Vermutlich erhöhte jeder Schritt in Richtung Waldbrück ihre Chancen, heil aus der Sache herauszukommen. »Nun, wenn Ihr darauf besteht. Aber ich möchte Euch wirklich keine Umstände machen.«

»Macht keine«, schnaubte er kurz, während er den Pfeil im Köcher verstaute und den Bogen auf den Rücken schnallte. Dann bedeutete er ihr sich mit ihm in Bewegung zu setzen. Während sie neben ihm herlief, dachte er, dass es in Wirklichkeit schon ein Umstand war, wieder dichter an die Siedlung heranzugehen. Er würde danach länger brauchen, ausreichend Fleisch zusammenzuschießen. Wegen einer Menschenfrau. Im Geiste hörte er schon jene Kameraden, die nicht in einem Mutterstamm großgeworden waren, zetern: Du hättest die Menschensnaga ja gleich zum Essen mitbringen können.

Naja, er musste es ihnen ja nicht erzählen. Für ihn und einige wenige andere, war eine gebärfähige Frau, oder eine die geboren hatte, zu respektieren. Ihm fiel auf, dass er zum wiederholten Male an ihre Ge­bärfähigkeit dachte. Frustriert musste er sich eingestehen, dass seine Erziehung nicht der einzige Grund war, warum ihn die Menschen­frau interessierte. Es waren auch die Mythen, die sich Orks über Menschenfrauen erzählten … »Alte Geschichten für junge Trottel«, grummelte er vor sich hin und schob den Gedanken beiseite.

»Wie bitte?«, fragte Azalea. Vielleicht hatte er nicht alle Tassen im Schrank. Konnten Orks verrückt werden?

»Ach nichts. Da vorn sind die Fichten.«

Sie beeilte sich, schnell die ausreichende Menge der grünen Triebe von den Zweigen zu sammeln, damit sie weitergehen konnten. Ein wenig nervös machte sie der interessierte Blick, mit dem er sie bei der Arbeit betrachtete, schon. Als sie ihren Weg fortsetzten, fragte er, was sie mit den Spitzen mache. Sie gab erklärte ihm ein harmloses Re­zept für Hustensirup, als wäre er ein Nachbar oder guter Bekannter.

Die Stelle, an der sie den Fluss überqueren wollten, war etwas ungünstig, da es kaum Trittsteine gab. Azalea raffte ihre Röcke hoch und machte sich daran in das flache Wasser zu waten.

»Halt! Eure Schuhe werden nass und schmutzig.«

Eine grünliche Hand mit stumpfen, abgewetzten Krallen landete erstaunlich vorsichtig auf ihrem Arm.

»Ich kann Euch herüber heben.«

Wieder versuchte sie sein Angebot abzuwimmeln und wieder bestand er darauf. Also fand sie sich kurze Zeit später auf den Armen eines Orks wieder, der erst durch das Wasser und dann durch das matschige Ufer watete, bevor er sie auf dem trockenen Gras absetzte.

Als Mordruk Azalea schon losgelassen hatte, beugte er sich noch­mal zu ihr herunter. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Geruch. Er blähte seine Nüstern und sog bewusst die Luft ein. »Der Geruch ist zu stark«, stellte er fest. Er konnte kaum ihren eigenen Geruch wahrnehmen. Es war, als wolle sie ihn verschleiern. Orks taten das nur, wenn sie Feinde von ihrer Spur abbringen wollen.

»Was?« Azalea spannte sich doch nochmal an. Wieder erwartete sie für einen Moment, nun doch noch in seinem Rachen zu landen.

»Die paar Blumen können niemals so stark riechen«, verdeutlichte er.

»Oh, natürlich nicht. Aus denen stelle ich auch Rosenwasser her und das träufle ich mir zusätzlich in die Haare. Gefällt Euch der Duft nicht?« Sie bemühte sich höflich zu antworten, etwas verlegen, weil sie ihm erneut Böses unterstellt hatte und er sich nur für ihr Haarwasser interessierte. Das bemerkten die meisten Menschen nicht mal. Mordruk schien über ihre Antwort verblüfft, sofern sie die Veränderungen in seiner immer grimmig scheinenden Ork-Mine richtig deutete.

»Er soll mir gefallen?«

»Nun ja, natürlich nicht Euch speziell«, beeilte sich Azalea zu erklären. »Es soll einfach allgemein gut riechen. Mir gefällt der Duft sehr.«

»Sonst nichts?« Diese Menschen, dachte Mordruk zum wieder­holten Male. Sie verschwendeten so viel Zeit und Ressourcen auf etwas, das einfach nur schön sein sollte. Dabei hätte sie auch ohne die Rosen gut genug gerochen.

»Nein sonst nichts«, antwortete sie verblüfft.

Seine Reaktion war nur noch ein grummelndes Schnauben, aus dem sie meinte das Wort »überflüssig« herausgehört zu haben. Er wandte sich in Richtung des Weges zur Siedlung. Von hier waren es nur noch wenige hundert Meter bis zu der Holzpalisade, die Wald­brück begrenzte. Trotzdem begleitete er sie, bis sie in Sichtweite des Tores waren. Er hatte tatsächlich Wort gehalten und sie einfach nur hierher gebracht.

»Vielen Dank. Das war wirklich sehr freundlich von Euch. Falls Ihr mal etwas braucht, einen Heiltrank vielleicht, könnt Ihr mich gern in der Siedlung besuchen. Mein Name ist Azalea«, verab­schiedete sie sich überschwänglich und reichte ihm die Hand.

Für einen Moment sah er sie verblüfft an. »Mordruk. Nichts zu danken«, antwortete er dann knapp.

Als sie das Tor erreichte, drehte sie sich noch einmal um und sah ihn zwischen den Sträuchern verschwinden. Er hatte tatsächlich noch gewartet bis sie eingetreten war.

Das wars schon mit der Leseprobe.

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