01.01.2021 – eine Neujahrskurzgeschichte

(keine Wohlfühlgeschichte)

Diese Tiefflieger wieder… alles dröhnt… so ein seltsam drückendes Gefühl… ich hab Sodbrennen… muss das Raclette gewesen sein… dieser unangenehme Moment, wenn man viel zu früh aus der betäubten Glücksseligkeit des Schlafes gerissen wird… nein, das können keine Tiefflieger sein. Als ich ein Kind war, haben wir in der Nähe von Ramstein gewohnt. Aber jetzt haben wir ja unser Häuschen am Edersee. Hier gibt’s keine Tiefflieger. Langsam schälen sich meine Gedanken aus dem Nebel. Was dröhnt denn hier so? Mein Kopf? Nein, soviel hab ich gestern gar nicht getrunken. Ein Bisschen von dem selbstgemachten Met meines Bruders. Den hat er an Weihnachten mitgebracht. Da hat er uns besucht, nachdem er vorher extra seinen Urlaub quasi in Quarantäne verbracht hat. Ja, 2020 ist sowas nötig, wegen Corona natürlich. Toll! Jetzt hab ich auch noch einen meiner ersten Gedanken im neuen Jahr wieder an diese Pandemie verschwendet. Wenigstens ist dieses scheiß Katastrophenjahr 2020 jetzt endlich rum.

Dieses Grollen klingt aber wirklich wie die Tiefflieger aus Ramstein früher. Machen die wieder so eine Militärübung und ich habe es nicht mitbekommen, weil ich in meiner Verdrossenheit aufgehört habe Nachrichten zu konsumieren? Vielleicht ist es auch ein Sturm. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch die Rollläden klappern wie wild. Und dieses drückende Gefühl…

Langsam werde ich richtig wach. Mein Mann nicht. Deshalb mache ich auch kein Licht an, als ich aufstehe, sondern taste mich im Dunklen durch den Flur. Dass der immer schlafen kann, wie ein Stein! Der Glückliche. Dafür hat er gestern endlich den ganzen Film geschafft. Nach Mitternacht haben wir noch angefangen Apocalypse Now im Director‘s Cut zu gucken. Ich bin irgendwann eingeschlafen, als die Protagonisten gefühlt stundenlang auf einem Boot rumgedümpelt sind. Der Titel ist definitiv zu episch für einen Kriegsilm. Die Apokalypse wäre bestimmt noch deutlich spektakulärer.

Normalerweise bin ich immer eine Frostbeule, wenn ich morgens aufstehe. Aber heute ist mir irgendwie zu heiß. Oh Scheiße! Hab ich etwa Fieber? Corona? Quatsch! Wenn man Fieber hat, ist einem erst recht kalt.

Unter der Badtür scheint Licht durch. Das Dachfenster im Bad hat als einziges keinen Rollladen. Dann wird’s wohl schon hell.

Ich öffne die Tür und werde begrüßt von einem spektakulären, orangeroten Sonnenaufgang, wie er schöner nicht sein könnte – naja, doch: Wenn dieses Gedröhne nicht wäre, dann wäre es noch schöner. Aber der Himmel strahlt in den intensivsten Farben, die ich je gesehen habe. Wow, und die neue Heizung ballert echt gut. Pellets. Haben wie dieses – nein, letztes Jahr ganz frisch sanieren lassen, mit Förderung von der BaFa. Wenigstens mal was gegen den Klimawandel, was uns auch zu Gute kommt.

Momentmal… Das Badfenster geht nach Westen raus. Da geht die Sonne doch eigentlich unter. Ich schaue kurz aufs Handy – 7:02. Ich habe keine drei Stunden geschlafen. Kein Wunder, dass ich so groggy bin. Aber eins wird mir plötzlich schlagartig klar: Die Sonne sollte weder um diese Uhrzeit noch in dieser Richtung aufgehen! Und es ist definitiv zu heiß und zu laut. Bei diesem Gerumpel kann man wirklich keinen klaren Gedanken fassen.

„Schatz? Was ist denn los?“

Ich schrecke zusammen, als mein Mann plötzlich hinter mir steht. Er sieht genauso verschlafen aus, wie ich mich fühle. Aber mit einem Schlag wird sein Gesichtsausdruck hellwach.

„Scheiße Allegra, es brennt!“, brüllt er und zerrt mich weg vom Fenster in den Flur zurück. Wir sind gerade um die Ecke, als das Badfenster mit einem ohrenbetäubenden Knall zerberstet. Scherben werden bis auf den Flur geschleudert und eine förmliche Wand glühend heißer Luft drückt sich herein. Wir sind schon fast an der Treppe, als sie uns erreicht. Es brennt wie Feuer auf der Haut, wird aber besser sobald wir ein Stockwerk tiefer sind. Mit dem nächsten Atemzug muss ich würgen. Es stinkt abscheulich nach faulen Eiern. Schwefel – schießt es mir durch den Kopf.

Unten ist noch alles dunkel. Die Rollläden sind noch unten, aber sie klappern nicht mehr. Oder es geht im Getöse unter. Ich schaue auf das Flurfenster und starre es einen Moment wie gebannt an. Die Lamellen des Rollladens drücken sich seltsam verzerrt gegen die Scheibe. Er schmilzt! Mit dem nächsten Knall bersten auch die Scheiben im ersten Stock. Ich ducke mich schreiend, aber mein Mann hat mich schon weiter die Treppe runtergezogen.

Ich stolpere in dem schummrigen, roten Licht den letzten Absatz herunter und falle. Ich versuche mich irgendwo festzuhalten, bekomme mit einer Hand das Geländer zufassen. Die andere hält immer noch mein Mann umklammert. Da bemerke ich, dass wir schon unten auf dem Boden stehen. Aber das Gefühl zu fallen hört nicht auf. Alles wackelt und vibriert. Ich klammere mich an ihm fest und schaue zur Haustür. Sie sieht gefährlich verformt aus und scheint nur noch an Angeln und Schloss zu hängen. Durch die Spalten, die sich rundherum gebildet haben, dringt stinkender Rauch und rotflackendes Licht. Uns bleibt nur der Vorratskeller.

„Fuck! Was ist das?“ Meine Stimme klingt panisch. Es wird stockfinster sobald wir die Tür hinter uns zuschlagen. Ich fummle irgendwie mein Handy heraus und bekomme die Taschenlampenfunktion an.

„Erdbeben, Vulkanausbruch, keine Ahnung“, murmelt mein Mann angestrengt, während er eine von den alten Matratzen gegen die Tür stemmt.

„Hör auf! Wir kommen hinterher nicht mehr raus!“, schreie ich.

In dem Moment fallen die ersten Brocken aus der Decke auf uns herab.

„Ah, au!“ Er krümmt sich geduckt zusammen, weil ihn ein großes Betonstück am Kopf getroffen hat.

Ich kauere mich zu ihm und versuche irgendwie die Matratze als Schutzschild über uns zu ziehen. Es donnert erneut und die ganze Decke scheint runterzukommen. Wir werden unter der Matratze zu Boden gedrückt. Es wird wieder stockdunkel. Mein Handy muss mir irgendwie aus der Hand gerutscht sein.

Mein Mann schreit wie am Spieß. „AHHHHH! Meine Beine! Schatz! AHHHHH!“

Ich versuche verzweifelt nach ihm zu tasten, bekomme aber nur einen Arm frei. Der andere klemmt unter meinen Rippen, zwischen meinen Oberschenkeln und meinem Bauch. Mein rechter Fuß tut höllisch weh, weil er abgeknickt unter meinen Beinen eingeklemmt ist. Aber ich kann nicht schreien. Mein Brustkorb wird zu stark von der Matratze über mir zusammen gedrückt.

Er hört auch auf zu schreien. Ich taste etwas Weiches. Sein Gesicht, seine Wange, seine Schläfe. Seine Haut fühlt sich nass an.

„Schatz was ist?“, presse ich hervor.

Keine Antwort.

Ich versuche es wieder aber ich schaffe kaum mehr als ein heiseres Flüstern. „Schatz?“

Wieder keine Antwort.

„Bitte!“ Jetzt ist es nur noch ein leises Wimmern.

Meine Atemzüge sind kurz und panisch. Mehr würde auch nicht gehen. Dieses Gewicht drückt mich immer mehr zusammen. Und ich dachte, ich wüsste was Platzangst ist, weil ich mich mal beim Campen im Schlafsack verheddert habe. Ich kann mich keinen Millimeter bewegen, obwohl ich alle Muskeln mit aller Kraft anspanne.

Ich kann nur den einen Arm bewegen. Taste weiter nach seinem Gesicht. Mehr Nasses, Weiches, Glitschiges. Ich muss würgen. Bekomme danach noch weniger Luft. Panik. Rasende Gedanken. So fühlt sich das also an. Fühlen sich so die Corona-Patienten? Hat George Floyd sich so gefühlt?

Ich reiße die Augen auf. Suche nach einem Anker in meiner Angst. Nur Dunkel. Keine Luft. Es kracht wieder. Ruckelt. Mein Kopf wird wattig.

Mein Rücken tut weh, meine Rippen auch. Meinen Fuß spüre ich nicht mehr. Irgendwann hört die Panik auf. Es fühlt sich mehr an wie Träumen. Gedankenfetzen kreisen in mir herum. Was letztes Jahr alles war… All die Zitate und Memes im Internet über Donald Trump, über Corona, die Maskengegner – nein ihr wisst definitiv nicht, wie es sich anfühlt keine Luft zu bekommen… die Flutkatastrophen, die Buschfeuer, die Explosion in Beirut… Ärger, Wut, düsterer Humor. Die Gedanken zerfasern immer mehr. Ein Spruch von 9gag geistert noch durch meinen immer leerer werdenden Kopf: Der war lustig, obwohl er dämlich war: Die Maya haben bei ihrem Kalender nur nen Zahlendreher drin gehabt. Bescheuert! Die hatten ja weder unser Zahlensystem noch den gregorianischen Kal–Ende

Euch allen ein frohes neues Jahr 2021!

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